Zusammenarbeit

Emergent Leadership: die Kunst, dein Projekt-Team die Führung übernehmen zu lassen

Warum durch Förderung dieser Eigenschaft effektive Gruppenentscheidungen getroffen werden

Autor: Devon Maloney17. Januar 2020Illustration von Kelsey Wroten

In der Fernsehserie Grey’s Anatomy werden Assistenzärztinnen und -ärzte mit einem schwierigen Fall betraut, den sie gemeinsam und ohne Hilfe eines Oberarztes lösen sollen. Das Ziel ist, herauszufinden, wer von ihnen natürliche Führungskompetenzen hat. Der Gewinner wird in der Sendung „der Gunther“ genannt.

Wenn jemand die Verantwortung in einer Situation übernimmt, in der es keine formalen hierarchischen Strukturen gibt, wird dies in der englischsprachigen Wissenschaft auch als Emergent Leadership (auf Deutsch: aufstrebende Führungskompetenz) bezeichnet. In unserer sich weiterhin wandelnden Arbeitswelt wird diese Kompetenz zu einer der begehrtesten Eigenschaften, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mitbringen sollten.

Was ist aufstrebende Führungskompetenz?

Die aufstrebende Führungskompetenz zeigt sich, wenn in einer Gruppe jemand aufgrund der Gruppeninteraktion die Führungsrolle übernimmt, statt diese von vorneherein erteilt zu bekommen. Diese Kompetenz gibt Mitgliedern eines Projekt-Teams auch die Gelegenheit, Entscheidungen außerhalb der gewöhnlichen Unternehmensstrukturen zu treffen. Statt also zum Beispiel untergeordnete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter immer eine Genehmigung von höher gestellten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einholen zu lassen, wodurch Wartezeiten entstehen, können diejenigen, die die aufstrebende Führungskompetenz an den Tag legen, selber diese Entscheidungen treffen und die anderen entsprechend anleiten.

VSCO ist ein Foto-App-Start-up und eine kreative Community, die aufstrebende Führungskompetenzen und Transparenz in Unternehmen fördert. Das geschieht, indem Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dazu angehalten werden, das Unternehmen als ihr Eigentum zu sehen und dementsprechend Entscheidungen zu treffen. Denn schließlich sind sie Teil des Unternehmens und damit gehört es ihnen auch. Davon ist Katy Shields, Vice President of People and Places von VSCO, überzeugt: „Je mehr und je eher Unternehmen Kontrolle abgeben können, desto mehr wird die richtige Art von selbstkorrigierender Kultur geschaffen, in der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die besten Fürsprecherinnen und Führsprecher und die größten Kritikerinnen und Kritiker sind, wenn das Projekt-Team nicht gut funktioniert.“

Warum sollten Unternehmen aufstrebende Führungskompetenzen fördern?

Auf individueller Ebene gibt die Eigeninitiative Einzelner Projekten den nötigen Schwung und erzielt wirkungsvolle Ergebnisse. Auf einer fundamentaleren Ebene ist aufstrebende Führungskompetenz die erneuerbare Energiequelle, die die Effizienz und das Wachstum deiner Organisation fördert.

Außerdem kann sie hierarchische Strukturen obsolet machen. Man muss sich nur Unternehmen wie den Online-Schuhhändler Zappos ansehen. Das Unternehmen hat sich von dem Modell zugewiesener Führungsrollen entfernt – es gibt also keine formalen Führungspositionen. Stattdessen setzt das Unternehmen auf Selbstmanagement, was eine wichtige Eigenschaft für aufstrebende Führungskräfte ist.

Aufstrebende Führungskompetenz wird durch Konsens angetrieben und nicht durch Anordnungen. Projekt-Teams, die jemanden auf natürlichem Wege als Verantwortlichen anerkennen, sind eher dazu geneigt, Entscheidungen zu akzeptieren, als wenn ihnen diese von oben auferlegt werden. Außerdem nehmen sie eher Anteil am Ergebnis.

Einige der erfolgreichsten Unternehmen weltweit haben aufstrebende Führungskompetenz zum Teil ihrer Rekrutierungsstrategie gemacht. Der frühere Senior Vice President of People Operations von Google Laszlo Bock hebt sie als Schlüsseleigenschaft hervor, die große Tech-Unternehmen bei all ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern suchen. Und Beth Comstock, vormals leitende Angestellte bei GE und NBC, sieht diese Eigenschaft als grundlegenden Faktor für den zukünftigen Unternehmenserfolg.

Wie können Führungskräfte aufstrebende Führungskompetenz fördern?

Führungskräfte sollten einen Entscheidungsfindungsprozess fördern, in dem das Projekt-Team im Mittelpunkt steht. So schaffen sie eine Umgebung, in der aufstrebende Führungskompetenz ganz natürlich aufkommen kann. Wenn man aber von der Annahme ausgeht, dass es die Besten sein werden, die als Führungskräfte hervortreten, kann das bedeuten, dass viele potentiell erfolgreiche Führungskräfte aus dem Rennen geworfen werden. Gemeint sind diejenigen, die introvertierter sind.

Denn schließlich sind es vor allem extrovertierte Menschen, die als aufstrebende Führungskräfte hervortreten. Ein Artikel in der Fachzeitschrift Personality and Individual Differences thematisiert aufstrebende Führungskompetenzen bei Studierenden der Wirtschaftswissenschaften. Diese wurden untersucht und es wurde festgestellt, dass “introvertierte Menschen dazu tendieren, eher negative Auswirkungen vorauszusehen als extrovertierte Menschen, da sie vorhergesehenen negativen Emotionen einen höheren Wert beimessen.”

Einfach ausgedrückt: Es stimmt nicht, dass introvertierte Menschen keine Freude an Führungspositionen haben oder dass sie dort nicht erfolgreich sein werden, sondern dass sie denken, dass dies so ist. Bevor die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine Übung absolvierten, in der sie in der Gruppe ein Problem lösen sollten, hatten sich die introvertierten Studierenden durch Aussagen wie „Ich werde ängstlich sein; Ich werde besorgt sein; Ich werde bekümmert sein; Ich werde unsicher sein; Ich werde nervös sein“ hervorgetan.

Diese negativen Annahmen müssen aber kein Hindernis für Führungskompetenzen sein. Wenn eine introvertierte Person in der Lage ist, diese Annahmen ins rechte Licht zu rücken, kann sie unter ihren eigenen Bedingungen als natürliche Führungskraft Erfolg haben. Die These der Studie: „Wenn introvertierte Menschen Strategien entwickeln, mit denen sie ihre Freude an Verhaltensweisen zutreffender einschätzen können, die aufstrebenden Führungskompetenzen zuträglich sind, dann ist es möglich, dass diese Menschen extrovertierten Menschen in entsprechenden Situationen im sozialen Umfeld gleichkommen.“

Damit es dazu kommt, müssen Führungskräfte eine kollaborative Führungsdynamik in ihrem Projekt-Team schaffen, in der sie für die untergeordneten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner agieren und nicht als Befehlshaberinnen und Befehlshaber. Wenn sich Führungskräfte auf das Führungs- und Entwicklungspotential sowohl der introvertiertesten Person ihres Projekt-Teams als auch derjenigen konzentrieren, die ganz natürlich eine Führungsrolle übernehmen, gibt das introvertierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Möglichkeit, eine Führungsrolle und eine positive Einstellung dazu einzunehmen.

Am Ende der besagten Folge von Grey’s Anatomy kommt heraus, dass der Test „Der Gunther“ genannt wird, weil der erste Gewinner ein ruhiger Mann namens Gunther war, den niemand wirklich auf dem Schirm hatte. Aber Arbeitgeber sollten „Gunthers” auf dem Schirm haben. In der Studie wird argumentiert, dass die negative Einstellung von introvertierten Menschen gegenüber aufstrebender Führungskompetenz „problematisch“ ist, da es viele Situationen gibt, in denen Eigenschaften introvertierter Menschen für einen guten Führungsstil stehen.

Zusätzliche Berichterstattung von Audra Williams

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